Das Toleranz-Paradoxon





Gestern wurde bekannt, dass dem Chef der vom DÖW (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes) als rechtsextrem eingestuften „Identitären Bewegung“ die Einreise nach UK verweigert wurde. Er musste die Nacht in einem Anhaltezentrum verbringen.
http://www.nachrichten.at/nachrichten/politik/aussenpolitik/Einreiseverbot-Identitaeren-Chef-Sellner-in-London-festgehalten;art391,2838175

Er kann einem schon leid tun, der Martin Sellner. Da kämpft er selbst gegen illegale Einreisen und dann ist er plötzlich selbst betroffen. Weil man ihn nicht haben will. Aber in seinem Fall ist das freilich etwas anderes. Da werden „kritische Meinungen ausgesperrt“.

Was muss / soll / darf eine Gesellschaft tolerieren und was nicht? Müssen wir im Namen der Toleranz auch Meinungen und Aktivitäten hinnehmen, die von Grund auf intolerant sind?

„Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

schrieb Sir Karl Popper. Und kam zu dem Schluß:

„Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“

Also ja, es ist nicht nur legitim, sondern überlebenswichtig für eine tolerante Gesellschaft, Intoleranz nicht zu tolerieren. In jeder Hinsicht.

Ich persönlich, als Frau und als atheistischer Mensch, hadere ja ein wenig mit einer Religion, die einem Geschlecht die Verhüllung nahe legt. Weil ich mich des Gefühls nicht entledigen kann, dass es dabei mehr um Macht geht als um ein religiöses Gebot.

Ich erinnere mich dabei an die vielen Monate, die ich in Belgien und Nordfrankreich verbracht habe. Da konnte ich viele dieser gespensterhaft wirkenden Frauen beobachten, die völlig in Schwarz verhüllt und nur durch einen kleinen Sehschlitz mit der Außenwelt verbunden waren. Weder sie, noch die Frauen im Burkini, denen die Sonnenstrahlen auf bloßer Haut verwehrt waren, vermittelten mir den Eindruck, als würden sie diese Bekleidung gerne oder aus freien Stücken oder aus innerer Überzeugung tragen.

Manchmal denke ich mir, dass wir solche Vorschriften im Sinne des Toleranz-Paradoxons nicht tolerieren sollten. Dass wir Frauen heute so leben können, wie wir es eben können, ist hart erkämpft. Auch wäre es ein Zeichen der Wertschätzung und Integration in eine andere Kultur, sich den hiesigen Gegebenheiten anzupassen. Ich muss mich in Saudi Arabien schließlich auch verschleiern, weil es dort eben Kultur und Vorschrift ist.

Andererseits ist es mir eigentlich ziemlich egal, wenn sich eine Frau unbedingt ein Kopftuch aufsetzen oder sonst irgendwie verhüllen will. Sie tut mir damit ja nichts Böses. Bisher wollte mich keine Einzige davon überzeugen, es ihr gleich zu tun. Auch wollte dies kein Mann, dessen Frau irgendwie verhüllt ist.

Meine persönliche Toleranz hat also ihre Grenzen dort, wo ich das Gefühl habe, dass ich und meine Mitmenschen in unseren Freiheiten eingeschränkt werden, wir intolerant gegen andere gemacht werden sollen.
Wenn unsere aktuelle Regierung von Arbeitslosen als „Durchschummlern“ und von Hilfesuchenden als „Sozialschmarotzern“ spricht, dann ist diese Grenze überschritten.
Wenn rechtsextreme Gruppierungen unter dem Deckmantel der Heimatliebe ganze Gruppen von Menschen diffamieren, dann ist diese Grenze überschritten.
Wenn unsere aktuelle Regierung das Rauchverbot kippt, weil die Freiheit der Raucher angeblich mehr zählt als die Gesundheit aller, dann ist diese Grenze überschritten.

Unsere noch-aktuellen „Volksvertreter“ möchten doch so gerne in der Verfassung herumpfuschen und das „Staatsziel Wirtschaftswachstum“ in selbiger verankern. Damit sie nicht das Gefühl der Untätigkeit bekommen und dennoch etwas sinnvolles tun können, schlage die Aufnahme des Toleranz-Paradoxons in die Verfassung vor. Das könnten sie dann gleich zum Anlass für den Rücktritt nehmen. Oder zur Auflösung ihrer Partei. Je nachdem, wie konsequent sie sind.




17 Antworten auf „Das Toleranz-Paradoxon“

  1. Danke für diese klaren und klärenden Worte. Ja, wir müssen wieder mehr und öfter deutlich sagen, wo Grenzen überschritten werden. Oft wäre ja nur die Vorstellung in das andere ICH schon hilfreich.
    Und die vielen durchschaubaren Aktionen sind so entbehrlich und gleichzeitig gefährlich. Kinder spielen auch gerne mit Feuer, und jetzt haben wir jene, die nicht erwachsen wurden sogar in der Regierung.
    Gründen wir eine Bewegung?
    Name: Menschenrechts-Einhaltungsbewegung

    1. Bin ihrer Meinung, doch würde ich jene nicht als „nicht erwachsen“ mit Kindern gleich setzen. Kinder sind nicht von vornherein böse und dumm, sie werden meist durch Erziehung und Vorbildwirkung dazu gemacht. Also würde ich behaupten, dass an dieser unsäglichen Regierung nicht nur die Wähler Schuld tragen, sondern vor allem die Eltern dieser Regierenden.

  2. Ich lese jeden ihrer Briefe gerne und mit Genuss, denn wirklich immer gehe ich mit ihrer Meinung konform. So auch heute wieder. Es erschreckt mich immer mehr, welch inkompetente und meines Erachtens auch Menschenrechtsfeindliche Personen unser Land momentan (in den Graben) regieren. Nur der eigene Vorteteil und die brutale Durchsetzung eigener Interessen ist für gewisse Individuen von Bedeutung, alles auf Kosten derjenigen, die diesen Subjrkten monatlich ihre pberhöhten Gehälter zahlen…..Meine Toleranzgrenze ist bei Weitem überschritten und das will was heißen….

  3. Ich bin WIRKLICH erleichtert und froh zu lesen, daß es noch (wenigstens) EINE(N) Menschen gibt, der so denkt wie ich… DANKE für die genial treffsicheren trotzdem witzigen Formulierungen und das Gefühl, daß ich nicht allein bin in dieser schaurig wirkenden Welt !!!

  4. Danke für die überaus „prächtig“ formulierten und auf den Punkt gebrachten Beiträge. Ich hab mir heute erlaubt, das Popper- Zitat zur Toleranz auf meiner Facebook Seite zu posten. Hoffe das geht für Sie in Ordnung.

  5. Was für ein Unterschied: Wurde Carl Popper nicht von der Britischen Königin für sein Epoche machendes Werk DIE OFFENE GESELLSCHAFT zum Sir geadelt? Und hier wurde einem Martin Sellner, Wortführer einer isolationistischen Gesinnung, die Britische Tür gewiesen.

    Hatte Popper nicht auch in Neuseeland, weit weg von NS-Willkür und NS-Verfolgung, sich mit Blut und Bodengesinnungen im Lehrkörper der Universität, an der da auch tätig war, auseinader zu setzen?

    Toleranz, humanitäre Grundhaltung ersparen einem nicht sich mit patriarchalen Ideologien, um nicht zu sagen patriachalen Phantasien, verstärkt durch religiöse Absolutismen, kritisch zu disputieren.

    Ist nicht die OFFENE GESELLSCHAFT ein hohes zivilisatorisches Gut das es auf allen Stammtischen zu verteidigen gilt?

  6. @Daniela Kickl … Danke für Sie! … so gar nicht witzig & spritzig ist der Ausfluss meiner Gedanken. / Über 40 postpubertäre Jahre ließen mich beobachten: es gibt die Parallelen ‚Altes-Neues Testament‘ (AugumAug -oder frage auch warum jemand ausrastet); oder ‚Mob(bing)- freundschaftlich‘ (unbeherrscht auf andere Wut auslassen- oder selbstbeherrschend integrierend); … und ich denke, die Menschheit ist noch zu jung um den scharfen Verstand sinnvoll einzusetzen. „Auszug aus dem Paradies“ beschreibt dies sinnbildlich … als der Verstand die Oberhand gewann, Mensch sich seiner selbst bewusst wurde, über die eigene Handlung entscheiden lernte. Nun haben viele aber noch nicht zu unterscheiden gelernt: sinn-un-sinn; längerfristig hilfreich-destruktiv. Menscheit (grob gesagt) benimmt sich wie ein zweijähriges Kind, dem man eine Rasierklinge zum Spielen gibt. Blutig. Ich erlebte aber neben Hinterfotzigen, Hackl-ins-Kreuz-Werfern … die Phönixe aus der Asche – wo man als 40 Jahre älterer Mensch nichts mehr zur natürlich fundierten überst-geordneten Denk-und Handlungsweise der jungen Menschen hinzuzufügen hatte – … „vollkommen ist, wenn nichts mehr hinzuzufügen ist“. Eine Sternstunde so eine Begegnung. In der Hoffnung, es bleibe so. Also alles da. Nur schlecht verteilt. / Ein Nestroy-Stück aufgeführt zu sehen – erschreckte mich neben allem Humor – es hat sich seither nichts WESENTLICHES in den Gedankengängen verbessert. Historisch gesehen – gibts ev. erst wieder einen Entwicklungsschub, wenn a la Bericht an den Club of Rome der Zusammenbruch der dzt. Kultur kommt – wie es ja alle anderen Kulturen davor im exponentiellen und dekadenten Stadium auch erwischt hat. Dann WIRD von der Natur der Resetknopf gedrückt (Leideform) nachdem wir es nicht schaffen werden, die Kurven (Wirtschaft, Ressourcen, Menschenzahl…) selbst zurechtzubiegen. Also meine ich, ‚es‘ ist von Zeit zu Zeit so ein natürlicher ‚Klärungsprozess‘ bei der ‚Kind-Menschheit‘ nötig – weil dann wird klar: das Wichtigste wäre humanitärer, fördernder, unterdrückungsfreier Zusammenhalt und das Nötigste ist das Wichtigste & das ist zu teilen. Eben Not-wendend. Dies global zu leiten ist wohl zu komplex für Menschenköpfe. Also wird die Eigendynamik seiner Systeme (für Mensch) stets schmerzlichen Ausgleich schaffen – Natur pur. Im Kleinen hier – im Großen überall.

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